Ina Webers Arbeiten zeugen davon, dass sie sich immer wieder aufs Neue einem Absolutismus der Wirklichkeit stellt und mit einem erstaunten Innehalten vor unerhörten Gegenständen oder Begebenheiten sich eben dieser Wirklichkeit anzunähern bestrebt ist. Zusätzlich erweist sich Ina Weber aber auch als Wortjägerin und Erforscherin des verborgenen Sinns. An die Stelle von Innovation, an die Suche nach dem Neuen und Originellen treten die Infiltration, die ironische Verfremdung und das Zitat. Im Hintergrund nistet nicht zuletzt die unterschwellige Frage, wie denn die Bilder in unseren Kopf gelangen und welche Schlaufen sie dort auszulösen vermögen. Das Aussieben von Bildern aus der medialen Bildmaschine stellt für Weber zuvorderst einen emanzipierenden Vorgang der Selbstverortung dar und ist weniger als Resultat von Verlustängsten oder gar als Kapitulation anzusehen
Wie lässt sich nun hier der Fokus auf die fernöstliche Formsprache verorten? Hierzu ein kurzer Blick in die Historie:
Als Voltaire in der Mitte des 18. Jahrhunderts begeistert über China schrieb, schwebte ihm ein von aufgeklärten Gelehrtenbeamten regiertes Riesenreich vor. Vor Ort war er zwar nicht gewesen, sicher hatte er jedoch die Chinamode an den europäischen Fürstenhöfen seiner Zeit vor Augen, wo in zahlreichen Garten- und Parkanlagen Pagoden, Teehäuser und Pavillons in fernöstlicher Bauweise entstanden waren. Mit ihren geschwungenen Dachformen, farbigen Säulen und exotischen Figuren suggerierten sie anhand weniger Versatzstücke das Bild eines heiter verspielten exotischen Lebensstils. Dass durch ein Kopieren chinesischen Porzellans im großen Stil auch massive, wirtschaftliche Interesses damit einhergingen, sei zumindest an dieser Stelle angeführt, sieht man heutigen Tags den Technologietransfer doch vornehmlich in umgekehrter Richtung verlaufen. Mittlerweile sind einige größere deutsche Architekturbüros mit der Planung ganzer Städte im Reich der Mitte betraut – aber auch die Versatzstücke traditionellen chinesischen Bauens haben in unseren Breitengraden eine anhaltende und ungebremste Verbreitung gefunden, kommt doch keines der zahlreichen Chinarestaurants in jeder mittleren bis größeren Stadt ohne sie aus. Selbst der rudimentärste Asia-Shop oder Thai-Imbiss wartet noch mit ihnen auf. Ob auch hierbei noch die Missverständnisse im globalen Kulturaustausch zum Tragen kommen, denen seinerzeit Voltaire erlegen war, verraten uns die keramischen Hausmodelle von Ina Weber, die eben diese architektonischen Hybridbildungen vor Agen führen, zwar nicht, geben aber nichtsdestotrotz Anlass, über die verschlungenen Wege des Völker verbindenden Miteinanders über Raum und Zeit hinweg ins Grübeln zu geraten. Es gehört zur subversiven künstlerischen Strategie Ina Webers, ihren Blick auf die urbanen, von Menschenhand geformten, zumeist profan-banalen und damit nahezu aus dem Bewusstsein entschwundenen Stadtmöblierungen zu richten und uns überraschend eigenwillig anmutende Versatzstücke daraus in heiter entlarvenden, aber auch befremdlich dimensionierten Modellsituationen als humorik, hintersinnige Stolperfallen vor Augen zu führen. Der Freund und Künstlerkollege Kiron Khosla bezeichnete Ina Webers Architekturabbreviaturen einmal treffend als ‚eine wahrhaftige Feier des Kontrollverlusts und der Bastardisierung der Stadtlandschaft.’
Inmitten einer Welt der verabredeten Eindeutigkeiten unterhält Ina Weber mit ihrem zweiten Blick auf die beiläufig konsumierten und oftmals vergessenen Bilder Kontakt mit den Dingen jenseits der Antithese von Nutzen und Nutzlosigkeit. Dieser Blick könnte jedoch auch die Fähigkeit bezeichnen, überraschende Verknüpfungen und ungeahnte Querverweise auch aus dem Fundus der Historie auf ihren künstlerischen Ertrag hin aufzuzeigen und durchzuspielen. In jedem Fortschreiten menschlicher Fähigkeiten und menschlichen Wissens stecken neben den primär erreichten Dingen stets diverse indirekte Rückwirkungen. Demnach wirken seine Errungenschaften auf den Menschen zurück und verändern sein Verhältnis zur Welt und zu sich selbst. Der Mensch ändert somit laufend seine eigenen Spielregeln. In einem Akt kreativen Erforschens eben dieser Spielregeln verlegt sich Ina Weber auf das Aufspüren und Ausloten der diversen indirekten, aber auch direkten Rückwirkungen.
Hierbei betreibt sie mit ihren künstlerischen Arbeiten ein kalkuliert reflektierendes Spiel mit offenen Systemen und Möglichkeitsformen, in dem Bewusstsein, dass der Mensch selbst – mit seinen Vorstellungen und seinem Weltverständnis – gleichsam ein solches offenes System darstellt. Denn in einer Welt, die seit jeher unter Sinnlosigkeitsverdacht steht, rühren sich hin und wieder durchaus berechtigt erscheinende Zweifel an unserem Vermögen, das uns umgebende Inventar hinreichend zu entschlüsseln.
Die Welt wird uns nicht gegeben: Wir bauen sie unaufhörlich durch unsere Erfahrungen, Kategorisierungen, Erinnerungen und immer neue Verknüpfungen auf. Ein dezenter Wechsel des Blicks vermag daher unversehens unsere Bodenhaftung in Frage zu stellen. Die Vorstellung von der Kunst als Nachahmung der Naturformen und der Dinge in der Welt wird nutzbar gemacht, um Orte zu schaffen und Räume zu öffnen, die den Menschen als denjenigen vor Augen führt, der immer wieder neu mit der Aufgabe zum Entwerfen seiner selbst betraut erscheint.
Das Leben, so meinte Sören Kierkegaard, werde zwar vorwärts gelebt, aber nur rückwärts verstanden. Gegeben scheint uns daher lediglich der Blick zurück, um aus dem vermeintlichen Ergründen der Anfänge heraus die vertrackte Gegenwart zu erschließen und Perspektiven für eine immer ungewiss bleibende Zukunft zu entwerfen. Hierbei hantieren wir nur allzu gerne mit der Entwicklung von Modellen als methodische Werkzeuge zur Analyse der Realität.
Auch Ina Weber richtet ihren Blick vornehmlich auf die uns vermeintlich vertraute urbane Realität und fördert daraus ehemals zweckdienlich erschienene Modelle, Attrappen und Maquetten zutage, die vom Irren und Wirren der Menschen erzählen und es daher wohl verdienen, einer spekulativen künstlerischen Transformation unterzogen zu werden. Dabei kennzeichnet das Aufspüren von formalen Verwandtschaften und unterschwelligen Sinnbezügen über weite Strecken das sich tentakelartig verzweigende Werk der Künstlerin. Zeitgeschichtliche Information und historische Sachverhalte, aber auch biografische Bezüge in intermedialer Aufbereitung erfahren dabei eine vielschichtige Vernetzung. Die Sprunghaftigkeit des spekulativen Denkens korreliert dabei aufs Trefflichste mit einer künstlerischen Strategie des Eindeutigkeitsverzichts. Auch einer medialen Festlegung auf die Zeichnerin, Malerin oder Bildhauerin weiß sich Weber geflissentlich zu entziehen und bespielt mit Vorliebe die experimentellen Räume dazwischen.
Wir können hier in der Ausstellung von einem Modell zum nächsten wandern und sie somit einem unmittelbaren Vergleich aussetzen. Gleichzeitig rufen sie aus unserer individuellen Erinnerung die Szenen wach, bei denen wir mit diesen oder ähnlichen Orten in Berührung gekommen sind. Sie stellen so etwas wie Blaupausen dar, die unsere Imagination zur Ausfüllung zur Verfügung gestellt bekommt. Ina Webers Arbeiten handeln von der kreativen Konkurrenz von Dingwelten räumlicher und objekthafter Präsenz in der Kunst und der funktionalen Welt. Werfen wir daher noch mal einen Blick auf den China-Look von Webers Arbeiten und rekapitulieren einige Fakten. Einer mehr oder weniger seriösen Zählung gemäß gibt es mehr als 10.000 China-Restaurants in Deutschland. Nicht mitgerechnet sind hierbei die zahlreichen Asia-Shops und Imbissstuben. Allein in Berlin soll es gut 400 Lokale geben. Unterscheiden kann man sie kaum. Schon die Einrichtung besteht in der Regel aus den immergleichen Zutaten, rote Lampions, China-Löwen, China-Bögen. All dies kann man beim Großhändler per Katalog bestellen. Die angebotenen Gerichte haben mit traditioneller chinesischer Küche nur relativ wenig zu tun und sind auf den Geschmack unserer Breitengrade abgestimmt und modifiziert. Auch werden die Lokale im Zweifelsfall gar nicht von Chinesen, sondern eher von Vietnamesen betrieben. Dies war aber nicht immer so. Als in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in Berlin Charlottenburg die ersten von chinesischen Betreibern geführten Restaurants eröffneten, gehörte die asiatische Folklore noch keineswegs zur Ausstattung. Die Gaststätten waren zunächst ein dezidiert urbanes Phänomen und galten europaweit als ein spezifischer Ausdruck kultureller Modernität. Die Folklore fand erst im großen Boom der Chinarestaurants der 60er und 70er Jahre Einzug in das Ambiente. Die wachsende Wohlstandsgesellschaft hatte mittlerweile auch in Deutschland den Hang zu fernen Urlaubsorten und exotischen Genüssen in der Heimat heranwachsen lassen. Just in dieser Zeit wuchs nun aber auch Ina Weber heran und vielleicht eröffnete ja in frühester Kindheit ein erster Besuch in solch einem entsprechenden Etablissement im Kreise der Familie den Drang nach fernen und fremden Welten. Bis heute bezieht die Künstlerin jedenfalls einen Großteil ihrer Inspirationen von den Reisen rund um den Globus und der genauen Beobachtung kultureller Vermischungen und kann mittlerweile auf ein beachtliches visuelles Archiv zurückgreifen.
Webers’ künstlerische Strategie der streunenden assoziativen Recherche verleiht den Skulpturen die Antriebsgeschwindigkeit von Gedanken, die Exponate kommen dabei als rhetorische Attrappen zum Einsatz. Mit einer Geste des leidenschaftlichen Zauderns nimmt Ina Weber genau solche Zonen in den Blick, in denen der Möglichkeitsraum noch nicht zugunsten nur einer Option geschlossen wurde.
Ihre Kunst ist dabei die sinnlich konkrete und gleichzeitig reflektierte Auseinandersetzung mit den Aporien, in die das Anschauliche gerät, wenn die Welt als solche zunehmend abstrakter und zweifelhafter wird. Die Haltung der Künstlerin ist dabei weder pessimistisch noch zynisch. Sie ist nicht ideologisch oder utopisch, auch nicht offen kämpferisch, sondern geprägt von der verhaltenen Sicherheit der vagabundierenden Spieler und ‚Bastler’, die den Alltag gleichermaßen als Materiallieferanten wie als Baustelle benutzen, als gegeben und infiltrierbar vorstellen. Hinter der Anschmiegung an Vorhandenes und Bekanntes setzt eine präzise Bildformung ein, deren Spiel mit der Wirklichkeit weder einfache Wiederholung noch eindeutiger Kommentar ist. Strukturelle, sowie auch ganz subjektive Ebenen werden dabei sichtbar und entfalten ihre je eigene Dynamik.
Harald Uhr (Auszug aus Harald Uhrs Eröffnungsrede zu Ina Webers Ausstellung „Neueröffnung“ im Kunstverein Schwäbisch-Gmünd 2014)